Der neue Ehrenbürger stellt sich vor
Gerhard Müller
05.02.2003 18:37
Für einige der Reichenauer Bürger bin ich kein Unbekannter. Seit vielen Jahren halte ich mit der Stadt engen Kontakt, habe sie oft besucht und Freundschaften geschlossen.
Ich wurde in Reichenau vor achtzig Jahren geboren und bin da auch aufgewachsen. Ein Jahr lang besuchte ich die Burgerschule in Münchengrätz und sollte die tschechische Sprache erlernen. Ich spielte dort auch in einer Musikkapelle die Klarinette und lernte dabei die tschechische Volksmusik kennen und lieben. Das sind nun 65 Jahre her und ich habe meine Sprachkenntnisse fast wieder vergessen, aber die Musik mag ich heute noch. Später besuchte ich Schulen in Gablonz und Reichenberg, mußte aber 1941 von der Schulbank weg Soldat werden und in den Krieg ziehen. Als der Krieg aus war, verbrachte ich noch vier Jahre in sowjetischer Gefangenschaft.
Die Heimkehr nach Reichenau war mir verwehrt und ich landete in Karlsruhe. Völlig mittellos war ich dort angekommen, hatte lange keine Wohnung und keinen Verdienst und war arbeitslos. In einer Druckerei bekam ich als Bürobote schließlich einen Arbeitsplatz und hatte dann die Möglichkeit mich als Kalkulator und Sachbearbeiter zu qualifizieren. Ich hatte 1945 im Jänner Gertrud Czerny, auch eine Reichenauerin, geheiratet. Sie konnte aber erst 1950 die CSSR verlassen, sie war bis dahin in der Landwirtschaft dienstverpflichtet.
In den Jahren, als es darum ging meine Existenz aufzubauen, habe ich wenig an die verlorene Heimat gedacht, und wenn, dann waren es bittere Gedanken. Später, in stillen Stunden, habe ich Gedichte verfaßt, die meine Bindung an die Heimat zum Inhalt hatten. Ich suchte Verbindungen zu Reichenauern, denen es wie mir ergangen war, die verstreut über die ganze Bundesrepublik Deutschland wohnten und die nun. Wie ich vom Heimweh geplagt wurden.
Als vor Jahren der hiesige Burgermeister an die Reichenauer nach Neugablonz schrieb und lange von dort keine Antwort bekam, habe ich ihm geschrieben und gebeten, er möge mit meinen Landsleuten Geduld haben, ihnen würde eine Antwort nicht leicht fallen. Gleichzeitig habe ich den dortigen Ortsbetreuer immer wieder gedrängt, er müsse sich entscheiden, entweder die versöhnende Hand zu ergreifen oder dem Bürgermeister mitzuteilen, daß man daran nicht interessiert sei. Schließlich schrieb man und es begann ein zaghafter Dialog, der meist über mich geführt wurde. Als sich dabei einmal eine Unstimmigkeit einstellte, lehnte ich die weitere Mitarbeit ab, der Ortsbetreuer möge allein weitermachen und ich empfahl ihm, selbst einmal nach Reichenau zu fahren, damit er die Leute kennenlerne, die sich für eine freundschaftliche Zusammenarbeit der alten und neuen Reichenauer Bürger einsetzen. Er bat mich, ihm weiterhin zur Seite zu stehen und fuhr nach Reichenau. Nach seiner Rückkehr war er wie umgewandelt, er wurde zum eifrigsten Verfechter von Versöhnung und Freundschaft. Einige, die seine Einstellung vorher gekannt hatten, waren sehr verwundert und bezweifelten seine Lauterkeit, viele andere aber begrüßten seine neue Haltung. Im Jahre 1995 wurde er von der Stadtverwaltung der Stadt Reichenau zum Ehrenburger ernannt.
Jahrelang habe ich ihn unterstützt und mich bemüht, Mittler zwischen den alten und neuen Reichenauern zu sein. Bürgermeister Chlouba, der meine Haltung kannte, stellte mir schriftliche Unterlagen aus der Geschichte der Stadt zur Verfügung, die ich in jahrelanger Arbeit durchsah und überschrieb, weil sie in der handschriftlichen Fassung auch für uns Deutsche nicht mehr lesbar waren. Es handelte sich um drei Memorabilienbücher aus dem kirchliche Leben, die einen Zeitraum von rund drei Jahrhunderten umfassen, dann eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse aus diesen drei Bänden, genannt "Reichenavia", zwei Schulchroniken und zwei Bände unveröffentlichter Chroniken von Preißler. Darüber hinaus habe ich fünf Bände verfaßt, die ich "Reichnejer Ollerlej" nannte, die Geschichten und Erlebnisse, geschichtliche Daten, mundartliche Erzählungen und Eigenheiten aus dem vergangenen Reichenauer Leben in bunter Folge enthalten. Besonders für die Bewahrung der heimatlichen Umgangssprache habe ich mich eingesetzt.
Mit meiner Arbeit wollte ich das Vermächtnis meiner Vorfahren erhalten und es den jüngeren Generationen weitergeben. Doch nicht nur an meine Landsleute dachte ich dabei, in gleicher Weise sollten auch die neuen Bürger über die Historie ihrer jetzigen Heimatstadt informiert werden. Nur wenn sie die Vergangenheit der Stadt kennen und zu ihrer eigenen machen, werden sie erfolgreich Wurzeln schlagen und dort eine Heimat finden. Wie ich erkennen kann, sind sie auf dem besten Wege dorthin. Dabei mitgeholfen zu haben ist rnir eine Freude.